Der Zauber der Teestube

von Florentine Hein unserer wundervollen Autorin und Gastbloggerin

Ich komme aus einfachen Verhältnissen, wie man das so schön sagt. Einfache Verhältnisse. Mein Vater hat meine Mutter windelweich geprügelt, wenn sie bei mir am Bettrand saß, anstatt ihm sein Bier zu bringen. Irgendwann hat sie unsere Sachen gepackt und ist abgehauen. Mit mir und einem anderen Typen. Der fand mich interessanter als sie. Deshalb ging’s weiter zur nächsten Station. Ins Frauenhaus. Damit aus mir noch was Anständiges wird. Hat auch funktioniert, wie ich das so sehe. Hab schnell gelernt, mich gegen die anderen durchzusetzen. Das sieht man schon an meinen schwarzen Klamotten. Kämpfer-Outfit. Kein Mann fasst mich an, wenn ich das nicht will. Hab sogar einen Beruf gelernt. Na, Verkäuferin ist nicht das Gelbe vom Ei. Sich den ganzen Tag die Beine in den Bauch stehen. Bei den Kundinnen rumschleimen: „Klar, Frau Dickwanst, sie sehen fantastisch aus in diesem Kleid. Schauen Sie, wie schön es Ihre Figur umschmeichelt. Glauben Sie mir, Sie wirken darin wie eine zierliche Elfe!“ Doch ich habe meine Stammkundinnen. Sie kommen immer wieder.

„Viola“, hat mein Chef kürzlich zu mir gesagt. „Viola, ich weiß nicht, wie Sie das machen, aber Sie sind mein bestes Pferd im Stall.“ Ok, da ging wohl seine Vorliebe für Pferderennen mit ihm durch. Aber rot geworden bin ich trotzdem.

Manchmal, wenn Feierabend ist, schleiche ich mich heimlich an die Ständer mit den richtig teuren Sachen. Dann bin ich mal die Schöne, drehe mich vor dem Spiegel in einem perlenbesetzten Kleid oder starre auf meinen Ausschnitt, der mit Rüschen verziert viel größer erscheint.

Kürzlich bin ich umgezogen. Der Kerl neben meinem Apartment hatte den Blick doch etwas zu oft auf meinem Hintern. Als er auch seine Hand folgen ließ, habe ich ihm eine gescheuert. Überraschung blitzte in seinen Augen – aber auch Verlangen. Da wusste ich, dass ich nicht mehr sicher bin. Jetzt wohne ich in einer WG. Zusammen mit Sonja Sonnenschein. Nee, so heißt sie nicht wirklich, sieht aber so aus. Die blondesten Haare ever, strahlendes Lächeln, immer gelbe Klamotten, sie blendet einen förmlich. Sonja redet auch so. Von Yoga und Erleuchtung. Trotzdem hat sie sich unter bestimmt fünfzig Bewerberinnen für mich entschieden. Sie meint, es klappt mit uns, weil wir so verschieden sind. Hell und dunkel, Gold und Pech. Himmel und Hölle. Vielleicht sehnt sie sich ja heimlich danach, auch mal „scheiße“ sagen zu können.

Eins verbindet uns noch: Wir lieben Fantasy! Gerade nach einem harten Arbeitstag tauche ich darin ab. Mittlerweile hängen wir oft zusammen auf dem Sofa und unsere Lieblingsfilme laufen hoch und runter. Blut-dürstende Vampire, mystische Gottheiten und gestohlene Ringe.

Gestern hat Sonja mich gefragt, ob ich mal mitkommen will. In die neue Teestube.

Gestern hat Sonja mich gefragt, ob ich mal mitkommen will. In die neue Teestube? So was wie Puppenstube in groß?“

„Teestube? So was wie Puppenstube in groß?“

Sonja nickt. Die Goldlöckchen wedeln eifrig von oben nach unten. Ihre Augen strahlen.

Verfluchter Mist, denke ich. Mir ist echt nicht nach Barbie. Aber Nein sagen kann ich dann doch nicht. Wer kann zur Sonne schon Nein sagen?

Jetzt also sitzen wir in dieser Tee-Puppenstube. Sieht auch echt so aus. Wenn ich meine Oma je kennengelernt hätte, dann bestimmt in so einem Raum. Ach nee, kein Raum, ein Zimmer, ein Salon. Mit Tischchen, die beim Husten umfallen, bedeckt mit Häkeldeckchen. Daneben stehen Sesselchen in grün und braun. Ich habe schon Angst, dass sie zusammenbrechen, wenn wir sie nur berühren. Doch sie sind erstaunlich bequem. Die Kerzen leuchten mit Sonja um die Wette. Sie fügt sich hier gut ein. Noch besser aber passen die alten Damen, die zwei Tische weiter sitzen, die dauergewellten Köpfe über eine Zeitschrift mit Schnittmustern geneigt.

Sonja reicht mir die Karte. „TEE“ steht obendrauf, in Schnörkelschrift. Darunter unzählige Sorten. Von „Happy Unicorn“ bis zum „Blümli“. Das letzte Mal, als ich Tee getrunken habe, war eine ordentliche Dosis Hanf dabei gewesen. Wahrscheinlich war die auch nötig, um solche Namen zu erfinden.

„Ich glaube, ich nehme einen Glückstee“, lächelte Sonja. „Ich habe heute so ein prickelndes Gefühl im Bauch, als ob noch etwas Aufregendes passieren würde

„Ich glaube, ich nehme einen Glückstee“, lächelte Sonja. „Ich habe heute so ein prickelndes Gefühl im Bauch, als ob noch etwas Aufregendes passieren würde. Was nimmst du? Einen Seelenwohl vielleicht?“

Ich schauderte. Langsam bekam ich Beklemmungen. Irgendwie war das des Guten doch zu viel. Ich wollte schon aufstehen. Da öffnete sich die Tür zur Küche. Und heraus kam, eilte, schwebte … na, auf jeden Fall der schönste Mann, den ich je gesehen habe!

Lange blonde Haare, dazu braune Augen, ein Piercing in der Braue darüber. Er trug schwarze Klamotten, aber irgendwie wirkte er hier nicht fehl am Platz, sondern so, als wäre das hier sein Reich. Als er sich die Haare zurück strich, entdeckte ich seine spitzen Ohren. Wie Legoals aus dem Herrn der Ringe! Er kam auf uns zu und lächelte. Wie hypnotisiert starrte ich auf sein Grübchen im Mundwinkel.

„Wie schön, euch zu sehen“, sagte er mit weicher Stimme.

Wie aus weiter Ferne hörte ich Sonja sagen: „Viola, darf ich dir meinen Bruder Lenny vorstellen? Ich nehme übrigens den Glückstee. Und für dich?“

Sie stupste mich leicht in die Seite. Aber es war zu spät. Längst war ich in zwei braunen Augen versunken, die mich ansahen, als würden sie mich seit Ewigkeiten kennen, erkennen, umarmen und nie wieder loslassen. Von irgendwoher hörte ich meine eigene Stimme sagen: „Ich … äh … also ich nehme den Waldwichtel!“

Den bekam ich auch – leider nur als Tee. Süß und fruchtig.

Sonja erzählte mir, dass Lenny vorher in meinem Zimmer gewohnt hatte – in meinem Zimmer! Doch dann habe er sich mit diesem „Teecafé „ selbstständig gemacht. Tee habe er immer geliebt, schon als kleiner Junge Kräuter dafür gesammelt.

Natürlich. Ich sah ihn über eine große Wiese rennen, mit langen, wehenden Haaren. Nein, er rannte nicht, er flog im Wind durch sein Elbenreich.

Unterdessen füllte sich die Teestube. Vom älteren Ehepaar bis zum Teenager, alle quetschten sich auf die winzigen Sesselchen und rührten in ihren Tässchen. Lenny balancierte geblümte Teekännchen auf silbernen Tabletts. Jedem seiner Gäste schenkte er ein bezauberndes Grübchen-Lächeln.

Irgendwann stand er wieder an unserem Tisch.

„Alles in Ordnung bei euch? Darf es noch etwas sein?“

Ach ja, so vieles! Und doch brachte ich kein einziges Wort heraus. Als habe ein Zauber meine Zunge gelähmt.

Sonja betrachtete mich mit verwundertem Blick.

„Alles ok mit dir?“, fragte sie.

Nein, nichts war ok. Meine Welt stand Kopf. Wenn ich das Kribbeln im Bauch richtig deutete, dann hatte ich mich in ihren Bruder verknallt. Oh nein, wie peinlich war das denn?

Erst auf der Straße konnte ich wieder richtig atmen. Das war doch nicht ich! Ich wollte mit Männern nichts mehr zu tun haben! Sie waren egoistisch und brutal.

Dann dachte ich daran, wie überaus vorsichtig Lenny mit seinen langen Fingern die Teetassen umfasst hatte … Hach!

Dann dachte ich daran, wie überaus vorsichtig Lenny mit seinen langen Fingern die Teetassen umfasst hatte

Was die Liebe mit einem macht – wie ein alberner Teenie schlich ich durch die Straßen. Mal mit einem idiotischen Grinsen im Gesicht, mal schniefte ich in mein Taschentuch. Mit Sonja schaute ich „Herr der Ringe“ rauf und runter. Wenn sie nicht da war, kniete ich vor dem Fernseher. In meiner Mittagspause rannte ich zur Teestube. Hinein traute ich mich nur, wenn außer mir noch andere da waren. Lenny begrüßte mich wie eine alte Freundin. Anfangs war meine Kehle wie zugeschnürt. „Hallo“, kiekste ich mühsam hervor. Und nur „bitte einen Lebensmut“. Wenn er sich dann über mich beugte, um die heiße Flüssigkeit in meine Tasse zu gießen, dann schlug mein Herz so laut, dann gab es immer diesen unsinnigen Moment der Hoffnung … Doch nichts geschah.

Es klingt bescheuert, aber immer dann, wenn ich die Tasse in Händen hielt, die ersten Schlucke getrunken hatte, dann wurde ich wieder ich selbst. Mehr noch. Es fühlte sich an, als sei ich auf magische Weise noch mehr Ich geworden, als hätte ich meine harte Schale abgestreift, wäre zu einem inneren Kern gelangt, neu und doch völlig vertraut. Dann brachte ich auch so etwas wie eine Unterhaltung zustande, erzählte Lenny davon, wie ich die Kundinnen im Kaufhaus um ihr „normales“ Leben beneidete, dass ich Schokoladeneis liebe und einmal in schicken Klamotten in die Oper gehen möchte. Im Gegenzug erzählte er mir von seinem verunglückten Job bei einer Event-Agentur:

„Bin jedes Mal davongerannt, wenn mehr als fünfzig Leute kamen. Dabei ist es das, was ich möchte: Die Menschen zusammenbringen.“

„Das machst du ja hier“, sagte ich.

„Was?“

Ich gluckste in meine Tasse. Warum sah er seine eigenen Stärken nicht? „Die Menschen zusammenbringen. Hier, in der Teestube.“

Klar kam ich nach solchen Gesprächen zu spät zur Arbeit zurück. Und klar war es mir egal, ob die weißen T-Shirts auf den Rosa-Stapel gehörten oder nicht. Klar wurde ich sauer, wenn eine Kundin sagte, sie würde lieber Kaffee trinken als Tee. Der Vorteil war: Ich wurde ehrlich! Ich schleimte nicht mehr, ich sagte einfach, was mir an ihnen gefiel und was nicht, hatte ein neues Ziel: Ich wollte ihnen Schönheit schenken!

Leider fand es der Chef gar nicht so gut. Dummerweise stand er gerade hinter einem Kleiderstapel, als ich Frau Meyer sagte, dass es egal war, ob sie nun diesen oder jenen Ausschnitt trüge – wo kein Busen war, konnten auch die teuersten Kleider keinen zaubern. Es war ja noch nicht einmal böse gemeint – das hochgeschlossene Kleid hätte ihr wirklich großartig gestanden! Aber mein Chef … also mein Chef … der kannte Frau Meyer wohl vom Pferderennen. Eine Stunde später hatte ich die Kündigung in der Tasche.

Arbeitslos.

Was würde jetzt kommen?

Wie lange würde ich die Miete bei Sonja noch bezahlen können?

Ich zählte das Kleingeld in meiner Tasche.

Es war nicht viel …

Es reichte gerade noch für eine Tasse Tee.

Als ich die Tür öffnete, sah ich neben Lenny ein Mädchen im rosa Kleid. Sie stand etwas zu nah bei ihm und blickte aus veilchenblauen Augen zu ihm auf.

„… können wir dann zusammen machen“, sagte er und lächelte sie an.

Nein, nein, nein!

Ich drehte mich um und stürzte nach draußen. Ein Klumpen im Bauch, der mich nach unten zog. Ich fiel auf die Knie, lag da, am Straßenrand. Wie konnte sie nur, diese Barbie-Puppe! Der einzige Mann, den ich je … ich würgte und zitterte. Keine Ahnung, wie ich schließlich nach Hause gekommen bin. Irgendwo im Schrank fand ich eine Flasche Wein. Viel zu schwach, doch wenigstens reichte sie, um für ein paar Stunden ins Nichts zu stürzen.

„Vi? Viola?“ Das Hämmern an der Tür hörte einfach nicht auf. „Lass mich gefälligst rein!“

In der tiefsten Nacht von der Sonne geweckt zu werden? Ihre Strahlen würden mich bestimmt verbrennen! Ich zog mir das Kissen über den Kopf. Trotzdem hörte ich, wie die Tür aufging.

„Der alte Trick mit der Haarnadel. Jetzt sei nicht albern, Vi. Sag mir sofort, was los ist!“

Ich habe alles ins Kopfkissen geschluchzt. Danach warf ich es an die Wand. Wieso sah Sonja aus, als würde sie sich das Lachen verbeißen?

„Ihr seid echt zwei Kindsköpfe! Steh sofort auf und komm mit!“

Natürlich habe ich mich geweigert. Aber sie war stärker.

Dann standen wir vor der Teestube. Sonja zeigte auf ein Schild an der Tür. Wieso hatte ich das nicht gesehen?

„Mitarbeiter/In gesucht!“ stand darauf.

Dann standen wir vor der Teestube. Sonja zeigte auf ein Schild an der Tür. Wieso hatte ich das nicht gesehen?

„Ich hab ihm gleich gesagt, er soll dich fragen. Aber nein, das traut er sich ja nicht“, schimpfte Sonja und gab mir einen Schubs. „Los, geh schon rein.“

Es war noch relativ früh. Die Teestube war noch leer. Nur Lenny war da und rieb die Tassen mit einem Tuch aus. So vorsichtig war er mit dem zerbrechlichen Porzellan! Nun schaute er auf.

„Hi … äh …“, sagte ich.

„Hi“, antwortete er. Voll das gute Gespräch!

„Sonja sagt … also, Sonja“, ich deutete wage zur Tür, vor der Sonja stand und durch die Glasscheibe feixte, „… also, ich würde mich bewerben, als deine Fr… nein, Quatsch, als deine Mitarbeiterin?“

Lenny machte einen Schritt auf mich zu. Dann zögerte er und blieb wieder stehen.

Es ging nicht mehr. Ich hielt es nicht mehr aus! Wie er mich ansah, mit seinen Elbenaugen. Ein Zögern stand darin, aber ganz tief drinnen, da brannte so ein Licht …

Ich ging auf ihn zu. Hielt seinen Blick. Stand dicht vor ihm. Er roch nach Wiese. Ich nahm seine Hand. Dann küsste ich ihn. Der Kuss schmeckte süß und fruchtig. Nach Wärme. Und er wurde erwidert. Wir versanken.

Nach einer Ewigkeit lösten wir uns voneinander. Lenny lächelte mich an, sein Grübchen tanzten.

„Ich glaube, der Job ist noch frei“, sagte er mit seiner warmen Stimme. „Der als Mitarbeiterin und der als Freundin auch.“

Mittlerweile haben wir die Teestube vergrößert. Wir bieten neben Tee nun auch Kleidung an. Alles, was Menschen zusammenbringt. Was die innere Schönheit nach außen strahlen lässt.

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