Heilung in den Bergen

von der Autorin Florentine Hein

Katharina setzte Fuß vor Fuß. Ein Kinderlied fiel ihr ein: „Darum setzt er Fuß vor Fuß, denn er ist kein Omnibus.“ Sie hatte es immer zusammen mit ihrer Freundin Isa gesungen. Damals, als die Welt noch in Ordnung gewesen war.

Damals …

Ein Steinchen löste sich und polterte den Berg hinunter. Ein falscher Schritt, und sie würde ebenfalls nach unten taumeln. Vielleicht wäre das noch nicht einmal das schlechteste.

Jason zumindest würde sie damit einen Gefallen tun. Dann müsste er nicht mehr jeden Monat diesen Betrag auf ihr Konto überweisen. Wobei, der tat ihm wohl kaum weh. Wie auch immer er es getrickst hatte – ihm blieb das Haus, das Auto, nur ihre persönlichen Sachen hatte sie mitgenommen. Ihre Kleider, den gelben Teppich, den er sowieso nicht mochte, die kleine Kommode. Gern hätte sie noch den alten Sessel gehabt, den sie zusammen auf dem Flohmarkt gefunden hatten. Doch der hatte jetzt angeblich seinem Urgroßvater gehört. Pah! Wieder eine seiner Lügen. Dumm nur, dass alle sie glaubten.

Die Überreste ihres alten Lebens lagerten jetzt in der Garage ihrer Eltern.

Ja, Katharina war gewarnt worden vor der Ehe mit diesem Mann. Isa hatte ihn auf Anhieb nicht gemocht. „Irgendwas kommt mir an ihm so falsch vor …“

Doch sie hatte sich die Ohren zu gehalten und war liebesblind hineingestürzt.

Fröhlich hatte sie zugestimmt, ihre Arbeit im Büro aufzugeben. Natürlich, sie würde ganz für ihn da sein. Isa hatte sie immer seltener getroffen. Die Freundin war gerade dabei gewesen, sich selbstständig zu machen mit einem kleinen Teeladen. Jason hatte das albern gefunden. „Wer brauchte Tee, wenn es Kaffee gibt?“ Katharina hatte brav dazu genickt.

Und ihre anderen Freunde? Ja, Jason hatte wohl recht, etwas peinlich waren die schon. Besuche bei ihren Eltern? Ach, das war doch Zeitverschwendung! Dafür kaufte er ihr Schmuck und schöne Kleider, führte sie in teure Restaurants. Zumindest am Anfang. Dann wurde der Ton gereizter, die Ausflüge seltener.

Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn sie ein Kind bekommen hätte. Ein zartes Geschöpf, das sie gemeinsam im Kinderwagen durch die Gegend geschoben hätten. Bestimmt wäre er stolz auf sie gewesen. Eine Familie.

Aber sie wurde nicht schwanger. Und er wandte sich ab. Sie schien jeden Reiz für ihn verloren zu haben. Wann hatte sie gewusst, dass es vorbei war? Als er an den Abenden nicht mehr nach Hause kam? Oder als sie die Lippenstiftspuren an seinem Hemd entdeckte?

Katharina blieb stehen. Es hatte zu regnen begonnen. Sie musste einen Unterschlupf finden, wenigstens einen dichten Baum. Sonst wäre sie bald völlig durchnässt.

So lange hatte sie sich noch an die Hoffnung geklammert. Die Hoffnung, er würde sich ihr wieder zuwenden. Doch schließlich war Jason es, der auf die Scheidung bestand. Nachdem er seine Schäfchen in Sicherheit gebracht hatte.

„Kind, fahr weg!“, hatte ihr Vater gesagt, als sie völlig aufgelöst vom Gerichtstermin kam, und ihr ein paar Hunderter in die Hand gedrückt. Sie war ins nächste Reisebüro gegangen und hatte sich einen Flug gebucht. Eine griechische Insel. Weit genug weg. Hoffte sie jedenfalls.

Sie flog davon, doch die Erinnerungen reisten mit. Sie lauerten im Gepäcknetz. Sie stürzten sich in den Nächten auf sie, saßen mit ihr am Tisch. Der Anblick von glücklichen Familien, die am Strand Sandburgen bauten, von Paaren, die Händchen hielten, war für sie kaum zu ertragen.

Die Berge, die so majestätisch im Inland aufragten, zogen Katharina magisch an. Sie sehnte sich nach Einsamkeit. Dort würde es ihr gut gehen. Bestimmt.

Unter den besorgten Blicken des Verkäufers deckte sie sich in einem Outdoor-Laden mit dem Nötigsten ein. Isomatte, Schlafsack, Gaskocher, Wasserflaschen. Ein Zelt war ihr zu schwer. Sie würde unter freiem Himmel schlafen. Es war doch Sommer.

Ihre Kleider passten in den Rucksack, den Koffer hinterließ sie einem freundlichen Portier. Sie würde ihn abholen – oder auch nicht.

Seit drei Tagen war sie nun unterwegs. Anfangs folgte sie einem Weg, doch der hatte sich irgendwann verloren.

„Wie passend!“, dachte Katharina ironisch und ging weiter. Einen Fuß vor den anderen.

In der ersten Nacht schlief sie unter einem großen Baum. Das Rauschen in den Blättern sang sie in den Schlaf. Für die zweite Nacht fand sie eine Kuhle in einem Felsen. Über sich die Sterne. Wie winzig kam sie sich vor. Und ihre Probleme doch so groß!

Für diese Nacht?

Wahrscheinlich hatte sie die Baumgrenze längst hinter sich gelassen. Es gab nur noch Sträucher, etwas Gras. Und Regen.

Wahrscheinlich würde sie sich eine Lungenentzündung holen. Wenn sie nicht vorher in den Abgrund stürzte.

Sie hatte keine Kraft mehr. Keine Kraft mehr für Schritt für Schritt. Sie kauerte sich auf einen Felsen und begann zu schluchzen. Ihre Tränen vermischten sich mit den Regentropfen. Die Kälte kroch in ihre Kleidung. Sie fühlte sich so verloren. Die Welt zerfloss.

„Hey. Stop it. Come on.“

Wie aus weiter Ferne drang eine Stimme zu ihr durch. Sie spürte die Wärme einer Hand auf dem Rücken. Irgendwie kam sie auf die Füße. Ein Arm um ihre Schulter. Eine andere Frau. Sie führte sie, durch einen Blättervorhang, in eine Höhle. Warm und trocken. Ein Feuer. Eine Tasse in ihrer Hand.

„Trink!“

Schluck für Schluck. Die Wärme floss durch ihren Körper. Langsam kehrte das Leben zurück. Ihre Welt nahm wieder Konturen an.

„Wer bist du?“

Die andere lachte ein kehliges Lachen.

„Ich bin Sarah. Lebe hier auf dem Berg, schon lange. Das Leben ist nicht gerade glimpflich mit mir umgesprungen. Irgendwann bin ich einer tiefen inneren Sehnsucht gefolgt. Sie hat mich an diesen Ort geführt, in diese Höhle, auf diesen Berg. Hier ist man dem Himmel ganz nah.“

Ja, vielleicht war es das, was auch sie hierher gezogen hatte. Dem Himmel ganz nah. Anscheinend hatte der Himmel Mitleid mit ihr gehabt. Und sie zu Sarah geschickt. Ein sich erbarmender Deus et machina.

Katharina blieb sitzen, hier am Feuer. Sie trank noch eine Tasse Tee. Spürte, wie es mit jedem Schluck in ihr ruhiger wurde.

Sarah saß neben ihr. Sie stellte keine Fragen, bohrte nicht nach Antworten. Vielleicht ahnte sie, dass die Menschen, die den Weg hierher fanden, Suchende waren. Suchende auf dem Weg zu sich selbst.

„Was ist das für ein Tee?“, fragte Katharina schließlich.

„Ich nenne ihn Bergtee. Seine Pflanze wächst hier oben, nahe bei den Göttern. Sie bringt dir ihren Segen.“

Den Segen der Götter. Welcher Götter auch immer. Doch die Vorstellung machte Katharina Mut. Irgendjemand, vielleicht ihr Schutzengel, hatte die Hand nach ihr ausgestreckt. Es war noch nicht alles vorbei. Sie hatte einen Abgrund durchquert. Doch auf der anderen Seite schien wieder die Sonne.

Sie dachte an Isa. An Isas kleinen Teeladen.

Jetzt gab es keinen Jason mehr, der sich darüber lustig machte. Mit jedem Schluck merkte Katharina, welche Kraft in diesem Gebräu ruhte. Es war wie flüssiges Licht, dass sie ganz erfüllte. Ja, sie würde Isa anrufen. Ihr erzählen, was geschehen war. Ihr sagen, dass sie recht gehabt hatte, von Anfang an.

Sarah hatte sie beobachtet. Sie zeigte auf eine Nische, auf der Pflanzenteile lagen und trockneten.

„Wenn du magst, kannst du dir einiges davon mitnehmen. Ich möchte diesen Tee gern zu allen Menschen schicken, die auf der Suche sind nach Heilung.“

Katharina nickte. Nein, sie würde Isa nicht anrufen. Sie würde direkt zu ihr fahren. Ihr diese Pflanze bringen. Den Segen der Götter. Sie würde sie um Verzeihung bitten. Und um einen Neuanfang.

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